11. November –
Martinstag. Wie alles begann.
Es
war Martinstag im
Rheintal. Die
Kirchturmuhr
von Jakobus schlug viertel nach sechs. Vom
Marktplatz zogen
die Familien mit
Posaunen, Trommeln,
Liedern und Laternen
nach Eibingen. Carl Carlsson
hatte das Pferd des
Martinsreiters beruhigt. Jedes
Jahr hatte es
schreckliches
Lampenfieber.
Nun machte Carlsson sich auf den Weg nach Hause.
Nun machte Carlsson sich auf den Weg nach Hause.
Er
ging gemächlich die Oberstraße zum Feldtor entlang, schaute über
den Rhein und summte vor sich hin. Es war dunkel. Gleich entzündeten
die Feuerwehrleute auf dem Kirchplatz das Martinsfeuer. Kinderpunsch
und Martinsbrezeln standen bereit. Die Martinsfeier würde beginnen.
Carlsson
ging den Rhein entlang, am Bahnhof vorbei, zum Rottland.
Früher
wurde hier Wein gebrannt, heute Pralinen gemacht. Es roch wohlig nach
Aromen und Schokolade. Hier war er zu Hause.
Seit
200 Jahren. So alt waren Haus und Keller. Carlsson war Wichtel.
Hauself. Nisse. Auf einem Schiff wäre er Klabautermann. In Rom hieße
er Lar, wäre in eine Toga gewickelt. Und fiele ständig über den
Saum. Da war ihm seine solide Arbeitskleidung lieber. Blauer Kittel,
durchgeknöpft. Braune Beinlinge, eingetragen. Spitze Stiefel,
eingelaufen. Gürtel. Werkzeugtasche. Dunkelrote Mütze. Wie ein
Bergmann.
Carlsson
war guter Geist des letzten Hauses vor dem Rottland. Nicht
irgendeines Hauses. Carl Carlsson war Hauswichtel des Rüdesheimer
Weihnachtsmarkts.
Eigentlich
hatte Carlsson als Reisewichtel angefangen. Geboren in der
schwedischen Stadt Malmö, kam er als junger Wicht vor fast
vierhundert Jahren im großen Krieg mit den Schweden in das Tal. Er
hatte seiner Familie versprochen, gut auf den Sohn acht zu geben, und
war in dessen Brotbeutel gereist und war in Rüdesheim gelandet.
Na
ja, fast in Rüdesheim. Eigentlich in Bingen.
Die
Schweden hatten Befehl, Furcht und Schrecken zu verbreiten und
zerstörten dazu ein Kloster. Seine Nonnen erhielten freies Geleit.
Carlssons Schützling wurde als Begleitung und Wache ausgewählt. In
kleinen, schwer beladenen Booten ruderten sie über den abendlichen
Rhein und kamen zu Fuß im Schein der Fackeln spät bei ihren
Schwestern an.
Carlsson
hatte aus dem Brotbeutel zugesehen, wie sich die Tore von Eibingen
öffneten für den müden Zug rund um den Karren mit kostbarer,
geheimnisvoller Last. Ein Kasten, sorgsam behütet und bewacht,
bedeckt von schwarzem Tuch, nein, von einem sehr alten schwarzen
Mantel.
Die
Schweden trauten sich nicht heran. Die Würde und Entschlossenheit
des Zuges hielt sie ab. Und etwas, das von dem schwarzen Kasten
ausging. Sehr vorsichtig, sehr ruhig trugen die verschleierten Frauen
ihn im Schein der Fackeln in die Kirche.
Carlsson
wunderte nichts mehr. Auch nicht, als sein Schützling ständiger
Wachmann in Rüdesheim und Eibingen wurde und Wurzeln schlug. Er
beschützte die Gutsfamilie, bei der er wohnte, heiratete die älteste
Tochter und blieb. Carlssons neue Familie, neue Aufgabe und neue
Bleibe war am Rhein.
381
Jahre später befand sich Carl Carlsson auf dem Heimweg. Na ja, fast
auf dem Heimweg. Anstatt geradewegs durch das Kellerfenster zu
steigen, in seine gemütliche Wichtelwohnung in der Schieferspalte im
untersten Keller, hinter dem hintersten Weihnachtsbaum - vorbei am
Milchvorrat, den er sich mit den Hauskatzen teilte – stattdessen
kletterte er den wilden Wein zur Tür des Wohnhauses hinauf, benutzte
die Katzenklappe* und folgte dem Lampenschein ins Arbeitszimmer. Dort
kletterte er auf den schweren Lehnsessel, begrüßte den schwarzen
Kater und schob ihn behutsam zur Seite, stellte sich auf die
Zehenspitzen, stützte sich mit den Händen auf die
Schreibtischkante, machte ein ernstes Gesicht und sagte - mit
überraschend tiefer Stimme, für jemanden, der eine Elle** hoch ist:
„Rehwald, wir müssen reden...“
*Praktische Erfindung. Spart Wege über Schornsteine oder Kanäle.
**Eine
Elle ist ein altes Maß. Vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen.