Montag, 11. November 2013


Carl Carlsson, Ella Elf
- und das Geheimnis von Weihnachten

11. November – Martinstag. Wie alles begann.

Es war Martinstag im Rheintal. Die Kirchturmuhr von Jakobus schlug viertel nach sechs. Vom Marktplatz zogen die Familien mit Posaunen, Trommeln, Liedern und Laternen nach Eibingen. Carl Carlsson hatte das Pferd des Martinsreiters beruhigt. Jedes Jahr hatte es schreckliches Lampenfieber.
 Nun machte Carlsson sich auf den Weg nach Hause.

Er ging gemächlich die Oberstraße zum Feldtor entlang, schaute über den Rhein und summte vor sich hin. Es war dunkel. Gleich entzündeten die Feuerwehrleute auf dem Kirchplatz das Martinsfeuer. Kinderpunsch und Martinsbrezeln standen bereit. Die Martinsfeier würde beginnen.

Carlsson ging den Rhein entlang, am Bahnhof vorbei, zum Rottland.

Früher wurde hier Wein gebrannt, heute Pralinen gemacht. Es roch wohlig nach Aromen und Schokolade. Hier war er zu Hause.
Seit 200 Jahren. So alt waren Haus und Keller. Carlsson war Wichtel. Hauself. Nisse. Auf einem Schiff wäre er Klabautermann. In Rom hieße er Lar, wäre in eine Toga gewickelt. Und fiele ständig über den Saum. Da war ihm seine solide Arbeitskleidung lieber. Blauer Kittel, durchgeknöpft. Braune Beinlinge, eingetragen. Spitze Stiefel, eingelaufen. Gürtel. Werkzeugtasche. Dunkelrote Mütze. Wie ein Bergmann.
Carlsson war guter Geist des letzten Hauses vor dem Rottland. Nicht irgendeines Hauses. Carl Carlsson war Hauswichtel des Rüdesheimer Weihnachtsmarkts.

Eigentlich hatte Carlsson als Reisewichtel angefangen. Geboren in der schwedischen Stadt Malmö, kam er als junger Wicht vor fast vierhundert Jahren im großen Krieg mit den Schweden in das Tal. Er hatte seiner Familie versprochen, gut auf den Sohn acht zu geben, und war in dessen Brotbeutel gereist und war in Rüdesheim gelandet.

Na ja, fast in Rüdesheim. Eigentlich in Bingen.

Die Schweden hatten Befehl, Furcht und Schrecken zu verbreiten und zerstörten dazu ein Kloster. Seine Nonnen erhielten freies Geleit. Carlssons Schützling wurde als Begleitung und Wache ausgewählt. In kleinen, schwer beladenen Booten ruderten sie über den abendlichen Rhein und kamen zu Fuß im Schein der Fackeln spät bei ihren Schwestern an.

Carlsson hatte aus dem Brotbeutel zugesehen, wie sich die Tore von Eibingen öffneten für den müden Zug rund um den Karren mit kostbarer, geheimnisvoller Last. Ein Kasten, sorgsam behütet und bewacht, bedeckt von schwarzem Tuch, nein, von einem sehr alten schwarzen Mantel.

Die Schweden trauten sich nicht heran. Die Würde und Entschlossenheit des Zuges hielt sie ab. Und etwas, das von dem schwarzen Kasten ausging. Sehr vorsichtig, sehr ruhig trugen die verschleierten Frauen ihn im Schein der Fackeln in die Kirche.

Carlsson wunderte nichts mehr. Auch nicht, als sein Schützling ständiger Wachmann in Rüdesheim und Eibingen wurde und Wurzeln schlug. Er beschützte die Gutsfamilie, bei der er wohnte, heiratete die älteste Tochter und blieb. Carlssons neue Familie, neue Aufgabe und neue Bleibe war am Rhein.

381 Jahre später befand sich Carl Carlsson auf dem Heimweg. Na ja, fast auf dem Heimweg. Anstatt geradewegs durch das Kellerfenster zu steigen, in seine gemütliche Wichtelwohnung in der Schieferspalte im untersten Keller, hinter dem hintersten Weihnachtsbaum - vorbei am Milchvorrat, den er sich mit den Hauskatzen teilte – stattdessen kletterte er den wilden Wein zur Tür des Wohnhauses hinauf, benutzte die Katzenklappe* und folgte dem Lampenschein ins Arbeitszimmer. Dort kletterte er auf den schweren Lehnsessel, begrüßte den schwarzen Kater und schob ihn behutsam zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen, stützte sich mit den Händen auf die Schreibtischkante, machte ein ernstes Gesicht und sagte - mit überraschend tiefer Stimme, für jemanden, der eine Elle** hoch ist: „Rehwald, wir müssen reden...“






  *Praktische Erfindung. Spart Wege über Schornsteine oder Kanäle.

**Eine Elle ist ein altes Maß. Vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen.